Mit der Grundschrift zur individuellen Handschrift

von Horst Bartnitzky und Ulrich Hecker (September 2014)

Die Wege der Kinder in die Schrift beginnen in der Regel weit vor ihrem Schulanfang: Sie entdecken Buchstaben und Schriftzüge, beobachten ältere Kinder und Erwachsene beim Schreiben und beim Lesen, entschlüsseln Schriftzeichen auf ihre Bedeutung hin wie P für Parken, Markenzeichen, ihren Namen. Viele Kinder beginnen auch selber Schrift zu produzieren: einen Krickelbrief an die Mama, ihren Namen unter ein Bild für den Papa. Die moderne Kita unterstützt die Neugier der Kinder auch auf die Schrift und ihren Umgang mit Buchstaben.

Dies ist denn auch die Alltagserfahrung der Lehrkräfte zum Schulanfang: Schrift ist Kindern heute nichts Fremdes mehr. Zumindest ihren Namen können die meisten Kinder schreiben, viele schreiben auch schon mehr. Und sie verwenden dabei die Buchstabenformen, die sie überall in ihrer Lebenswelt entdecken: auf Plakaten wie auf der Tastatur, auf dem Einkaufszettel wie in der elektronischen Botschaft: die Buchstabenformen der lateinischen Druckschrift.

Die moderne Grundschule hat daraus vier Konsequenzen gezogen:

  • Sie ignoriert nicht den begonnenen Weg der Kinder in die Schrift, sondern setzt an den bereits erworbenen Kompetenzen an.
  • Sie geht nicht mit allen Kinder im gleichen Lehrplanschritt voran, sondern unterstützt die Kinder gerade dort, wo sie sich in ihrer unterschiedlichen Entwicklung befinden.
  • Sie setzt nicht von Anfang an die normgerechte Rechtschreibung als Maß, sondern weiß um die Bedeutung des lautorientierten Verschriftens für das Eintauchen in unsere Buchstabenschrift.
  • Sie bricht die vorschulische Orientierung der Kinder an den lateinischen Druckbuchstaben nicht zugunsten einer normierten Schulschrift ab, sondern übernimmt die handgeschriebenen Druckbuchstaben als Ausgangsschrift.

Diese Entwicklungen haben sich in den letzten 35 Jahren gefestigt (siehe z.B. Bartnitzky 2013, S. 237 ff.).

Eine Ausgangsschrift reicht

Bis vor etwa 30 Jahren war die Frage nach der Ausgangsschrift für das Schreiben eindeutig: In der damaligen DDR war es seit 1968 Schulausgangsschrift SAS, in der damaligen Bundesrepublik seit 1953 die Lateinische Ausgangsschrift LA und seit den siebziger Jahren alternativ die Vereinfachte Ausgangsschrift VA. Diese Schriften wurden eigens für den schulischen Anfangsunterricht entwickelt – als Ausgangsschriften für die Entwicklung der individuellen Handschriften.

Der Schriftunterricht vollzog sich als eigener Lehrgang neben dem Leselehrgang.

Diese Zweiteilung – hier Lesen, da Schreiben – änderte sich mit den didaktischen Konzepten „Lesen durch Schreiben“ (Jürgen Reichen), „Spracherfahrungsansatz“ (Hans Brügelmann) und zahllosen weiteren wissenschaftlichen Studien und Praxisberichten zum Schriftspracherwerb (von Gudrun Spitta 1983 bis Mechthild Dehn 2013).

Aus der Zweiteilung wurde das integrierte Konzept, bei dem Lesen und Schreiben als zwei Seiten derselben Medaille gelten, die sich bei der Erarbeitung der Buchstabenschrift als Kommunikationsmittel gegenseitig unterstützen.

Die dafür einzig geeignete Schriftform ist die sog. „Gemischt-Antiqua“ mit den lateinischen Druckbuchstaben. Sie wurde damit zur Ausgangsschrift beim Schreiben.

Die Einführung der an der Schule üblichen Schreibschrift LA, VA oder SAS wird als zweite Ausgangsschrift zumeist an das Ende des ersten oder den Beginn des zweiten Schuljahrs verlegt.

Diese Abfolge veranlasste den Grundschulverband im Jahr 2005 zu fragen: Wie viele Schriften brauchen Grundschulkinder?

Es war eigentlich eine rhetorische Fragen, denn die Antwort liegt auf der Hand: Für die Weiterentwicklung zu einer individuellen Handschrift ist nur eine Ausgangsschrift erforderlich. Die weitere Schriftentwicklung muss dann unterrichtlich begleitet werden, auch mit dem Ziel, wie es die Bildungsstandards vorgeben: eine gut lesbare, flüssig geschriebene Handschrift (siehe KMK 2005, S. 10).

Unterstützt wird diese eindeutige Antwort durch die Problemlage, die sich bei der Praxis mit zwei Ausgangsschriften inzwischen gezeigt hat:

  • Die Kinder sind bereits auf dem Weg zu einer individuellen Handschrift. Dieser Weg wird nun abgebrochen zugunsten der Übernahme einer für die Kinder neuen normierten Schrift – einer Schrift, die sich aber nirgendwo in der Lebenswelt der Kinder wiederfindet, sondern eigens für den Anfangsunterricht konstruiert wurde.
  • Die Kinder schreiben mit den handgeschriebenen Druckbuchstaben in Klasse 1 bereits Wörter, Texte, Geschichten. Diese Entwicklung der Schreibkompetenz bricht ebenfalls häufig abrupt ab, wenn nun buchstabenweise eine neue Schriftform erarbeitet wird.
  • Die Zeit, die durch den Verzicht auf die zweite Ausgangsschrift gewonnen wird, kann nun der weiteren Schriftentwicklung zu Gute kommen, um Kinder zu einer gut lesbaren und flüssig geschriebenen Handschrift zu verhelfen.

Das schriftdidaktische Konzept der Grundschrift

Im Grundschulverband bildete sich nach 2005 die Projektgruppe „Grundschrift“, bestehend aus Personen der Schulpraxis, der Wissenschaft und Fachdidaktik (siehe das Autorenteam in: Bartnitzky / Hecker / Mahrhofer 2011).

Schulpraktische Erfahrungen sammelten wir an Schulen, die während aller Grundschuljahre das Schreiben mit Druckbuchstaben bevorzugten (Grundschulverband 2010, bes. S. 17 – 22).

Wissenschaftlichen Rat holten wir uns mit einer Studie, die den Stand der Forschung zum Schreibenlernen zusammenfasst und unter Berücksichtigung des Forschungsstandes Schriftentwicklungen mit „graphomotorisch vereinfachten Schreibvorgaben“ untersucht (Mahrhofer 2004).

Auf diesen Grundlagen entstand die Konzeption einer neuen Schriftdidaktik, die seitdem unter dem Namen „Grundschrift“ firmiert und sich in der Schulpraxis verbreitet.

Ihre kennzeichnenden Merkmale sind die folgenden:

Zur Schrift

Die Buchstabenformen:

Ausgangsformen sind die Buchstaben der „Gemischt-Antiqua“. Sie ist Lese- und Schreibschrift zugleich. Als handgeschriebene Druckschrift werden die Buchstaben bei einiger Geläufigkeit nicht mehr abgemalt, sondern erhalten individuelle Züge. Durch die Anwendung der Schrift, aber auch durch besondere Übungen wird diese Entwicklung gefördert, siehe hierzu die Materialien des Grundschulverbandes (s.u.). Dabei sind günstige Bewegungsrichtungen durch weiße Pfeife im Buchstaben vorgegeben.

Die Wendebögen:

Die zehn Kleinbuchstaben, die auf der Grundlinie enden, erhalten jeweils einen Wendebogen. Diese Wendebögen geben dem Schreiben des Buchstabens etwas mehr Schwung und bereiten zugleich auf mögliche Verbindungen von Buchstaben vor.

Verbindungen:

In einer zweiten Phase werden Verbindungen von Buchstaben zum Thema des Schriftunterrichts, z. B. bieten sich Verbindungen von i und e oder von a und u an. Sie werden ausprobiert und geübt, sie werden von Kindern entdeckt und durchprobiert. In Schriftgesprächen werden sie anderen Kindern gezeigt und möglicherweise übernommen. Vorlagen und Beispiele finden sich auch in den Materialien des Grundschulverbandes (s.u.).

Verbindungen können sein, müssen es aber nicht. Routinierte Schreiber heben nach wenigen Buchstaben im Wort den Stift vom Papier ab, die Bewegung der Hand setzt sich in der Luft fort, bis der Stift wieder auf dem Papier landet. Gründe sind die Bewegungsökonomie und die Vermeidung von Verkrampfungen. Dies kann jeder auch im Selbstversuch beobachten.

Buchstabenvarianten:

In der zweiten Phase werden auch Buchstabenvarianten zum Thema, insbesondere wenn das Schreiben der Buchstaben damit flüssiger wird und Verbindungen möglich sind, z.B. kann das kleine l eine Schleife erhalten, damit kann der Buchstabe auch Modell für andere Buchstaben sein, die ebenfalls mit einer Schleife geschrieben werden können: b, f, h, k. Auch hier gilt ausprobieren, anderen zeigen, üben. Vorlagen und Beispiele finden sich in den Materialien (s.u.). Auch die Varianten können sein, müssen es aber nicht.

Lineaturen:

Ein Hemmnis für den flüssigen Bewegungsablauf sind die herkömmlichen Anfangslineaturen mit den drei Bändern, weil die Schreibbewegung an den Linien verzögert wird. Auch sind Bewegungsabläufe und Schriftgröße individuell. Deshalb sollte auf die traditionelle Lineatur 1 und 2 verzichtet werden.

Die Kinder schreiben entweder auf Blanko-Blättern, auf eine Grundlinie oder mit Hilfe von Lineaturen mit Schreibräumen: Das Mittelband ist dabei vorgegeben, zur Markierung der Proportionen der Ober- und Unterlängen ist links und rechts am Rand die Größenordnung durch einen Balken markiert, ersatzweise kann dies auch das bekannte Häuschen mit Dach und Keller sein (s. u. bei Material).

Zu den didaktischen Prinzipien

Kriterien:

Bei aller individuellen Varianz gelten für alle Schriftprodukte drei fachbezogene Kriterien:

  • Formklarheit der Buchstaben („Kann man jeden Buchstaben gut erkennen?“)
  • Leserlichkeit („Kann man alles gut lesen?“)
  • Geläufigkeit („Ist der Buchstabe / das Wort / der Text mit Schwung geschrieben?“)

Schriftgespräche:

Ein wichtiges didaktisches Element sind Schriftgespräche, bei denen die Kinder Verbindungen und Varianten besprechen und auch gemeinsam durchprobieren. Schriftproben werden mit den drei Kriterien auf ihre Qualität hin eingeschätzt.

Gestalten mit Schrift:

Kinder verwenden die Schrift zunächst als Gebrauchsschrift, die ästhetische Qualität ist dabei durch die o. a. Kriterien mit im Spiel. Eine besondere Rolle erhält die Schrift, wenn mit ihr auf besondere Weise Buchstaben, Wörter, Texte gestaltet werden, wie Initialen, Überschriften, besondere Texte.

Materialien

Der Grundschulverband ist ein Fachverband, er gibt keine Unterrichtsmaterialien heraus. In diesem Fall wurde eine Ausnahme gemacht. Denn es wurde schnell deutlich: Das Konzept ist nur dann für die Praxis überzeugend, wenn sie auch mit Arbeitsmaterial konkretisiert wird.

Dies wurde im Laufe der Zeit umso wichtiger, weil die kommerziellen Verlage inzwischen ebenfalls Materialien zur Grundschrift herausgeben – und zwar mit unterschiedlicher Qualität. Mit seinem Material wollte der Grundschulverband die didaktische Qualität vorgeben. Anders als kommerzielle Verlage ist der Grundschulverband als gemeinnütziger Verband hierbei nicht auf finanziellen Gewinn aus. Die Autoren sind auch nicht am Absatz beteiligt.

Kartei:

Seit 2011 gibt es einen zweiteiligen Karteisatz: Der eine Teil dient der Übung der großen und kleinen Buchstaben; der andere Teil stellt einige Verbindungen und Buchstabenvarianten vor und gibt dazu Übungsmöglichkeiten vor.

Kleeblatthefte:

Viele Lehrkräfte wünschten sich statt einer Kartei Hefte. Deshalb erarbeitet die Projektgruppe vier „Kleeblatthefte“: zur Übung der Groß- und Kleinbuchstaben, von Verbindungen und Varianten, zum Training von Schreibflüssigkeit und mit Anregungen zum Gestalten mit Schrift..

Schreibhefte:

Ein anderer Wunsch von Lehrkräften war der nach Schreibheften mit den Lineaturen, wie sie hier vorgeschlagen werden. Dieser Wunsch konnte mit Hilfe des Online-Shops Sedulus erfüllt werden. Die Hefte werden im Rahmen sozialtherapeutischer Werkstätten hergestellt.

Literatur

Bartnitzky, Horst (2013): Sprachunterricht heute. Berlin. 16. Aufl.

Bartnitzky, Horst / Hecker, Ulrich / Mahrhofer, Christina (2010): Grundschrift. Damit Kinder besser schreiben lernen. Frankfurt a. M.

Dehn, Mechthild (2013): Zeit für die Schrift – Lesen und Schreiben im Anfangsunterricht. Berlin

Grundschulverband (Hrg.) (2005): Grundschule aktuell Heft 91, Themenheft „Wie viele Schriften brauchen Grundschulkinder?“

Grundschulverband (Hrg.) (2010): Grundschule aktuell Heft 110, Themenheft: Grundschrift – damit Kinder besser schreiben lernen

KMK (2005): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich. München

Mahrhofer, Christina (2004): Schreibenlernen mit graphomotorisch vereinfachten Schreibvorgaben. Eine experimentelle Studie zum Erwerb der verbundenen Ausgangsschrift in der 1. und 2. Jahrgangsstufe. Bad Heilbrunn / OBB

Spitta, Gudrun (1983): Kinder schreiben eigene Texte: Klasse 1 und 2. Berlin